Von der großen Politik
Torsten Thees
In den ereignisreichen Jahren nach dem Ende des ersten Weltkrieges, als Ausgehverbot und Ausnahmezustand an der Tagesordnung waren, als der Arbeiter- und Soldatenrat Cuxhaven zur „Sozialistischen Republik“ erklärte, als die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs in aller Munde waren und der Kapp-Putsch hohe Wogen schlug, nahm in Cuxhaven eine Geschichte ihren Anfang, die weltweit ihresgleichen sucht:
Die Entführung des Fischdampfers „Senator Schröder“ nach Rußland.
Hierbei sind gewiß die Zeitumstände zu berücksichtigen, denn beide Nationen, die russische wie die deutsche, hatten Nachkriegssituation und Revolution zu bewältigen, so dass die Entführung eines Fischdampfers - aus welchen Motiven auch immer - kaum ins Gewicht fallen konnte.
So fällt es aus heutiger Sicht denn auch schwer, die im Folgenden geschilderten Ereignisse zu beurteilen. Handelte es sich um ein (politisches) Abenteuer, ein Husarenstück oder gar nur um eine Posse?
Am 10.5. 1920 erschien in der Cuxhavener Zeitung unter der Überschrift: „Fischdampfer Senator Schröder von Kommunisten entführt?“ die (dänische) Meldung, dass der Fischdampfer mit 60 unabhängigen Sozialisten an Bord in Archangelsk eingelaufen sei. Die Besatzung habe unterwegs die Offiziere gefangen gesetzt und das Schiff in Archangelsk der Räteregierung zur Verfügung gestellt.
Die Reederei, die „Cuxhavener Hochseefischerei A.G.“, hatte das nach Island bestimmte Schiff bis zu diesem Zeitpunkt als „auf Fangreise“ betrachtet und es weder als vermisst noch als überfällig angesehen und konnte demgemäß zu der dänischen Meldung keinerlei Stellung beziehen.
Einzelheiten über diese Entführung waren erst Ende Mai - nach der Rückkehr des Schiffes - den Aufzeichnungen des Steuermannes zu entnehmen.
Am 21.4.1920 verließ die „Senator Schröder“ Cuxhaven zur Fangreise nach Island. Als sich das Schiff gegen 22.00 Uhr zwischen Feuerschiff „Elbe I“ und Helgoland befand und der Kapitän für einen Moment die Brücke verlassen hatte, brachten sich die Matrosen Knüfken und Heyde sowie die in der Nacht zuvor in Cuxhaven eingeschlichenen blinden Passagiere Appel, Klahre und de Voß mit Waffengewalt in den Besitz des Schiffes. Appel und de Voß gaben sich bald als Vertreter der ‘russischen Räterepublik’ und Delegierte der Kommunistischen Arbeiter Partei Deutschlands zu erkennen.
Nachdem sie vier Besatzungsmitglieder, darunter den Kapitän und den 1.Steuermann, unter Todesdrohungen in das Kabelgatt gesperrt hatten, nahmen die Entführer mit dem Schiff Kurs auf Rußland. Der Besatzung wurde unterdes versichert, dass sie mit dem Schiff nach ‘erfüllter Mission’ ungehindert und mit Proviant und Kohlen versehen, die Rückreise antreten könnten.
Am 30. April erreichte die „Senator Schröder“ Murmansk, wo das Schiff sofort von der russischen Räterepublik beschlagnahmt wurde und die vier Inhaftierten auf Veranlassung des ‘Haupträdelsführers’ Knüfken von einer Militärpatrouille abgeführt und in einem Gefängnis untergebracht wurden.
Das Schiff führte von nun an die rote Flagge und war dem Marinekommissar unterstellt. Sämtliche Erkennungszeichen des Schiffes wurden entfernt, und die restliche Besatzung musste Marineuniform tragen.
Als die Besatzung am 14.Mai den Auftrag erhielt, für die Bevölkerung zu fischen, nutzte sie auf See die Gelegenheit, nahm die an Bord verbliebenen Aufrührer Klahre und Heyde fest und ging auf heimatlichen Kurs. Am 17.Mai meldete der Steuermann das Schiff dem deutschen Konsul in Tromsö.
Soviel zur Irrfahrt des Schiffes und der an Bord verbliebenen Besatzung. Über die Erlebnisse der vier in Rußland Zurückgebliebenen liegt eine Schilderung des Kapitäns Gewald vor, die am 3.Juli 1920 in der Cuxhavener Zeitung erschien.
Demnach sind die Gefangenen zunächst in einem bewachten ausrangierten Eisenbahnwagen einquartiert, jedoch schon nach ca. zwei Stunden in ein nahes Gefängnis verlegt worden. In dem Gefängnis, einem streng bewachten und mit Stacheldraht umzäunten hölzernen Blockhaus, blieben die Inhaftierten fünf Tage. Zusammen mit etwa 50 anderen Gefangenen mussten sie unter widrigsten Bedingungen schwere Arbeiten verrichten, ehe sie am 5.Mai per Bahn nach Petersburg abtransportiert wurden. Während der fünftägigen Fahrt dorthin sind sie wieder schlecht behandelt und bei strenger Bewachung nur notdürftig verpflegt worden.
Als dort das Auswärtige Amt auf die Vier aufmerksam wurde, besserte sich ihre Lage und sie bezogen ein Quartier innerhalb des Auswärtigen Amtes. Nach zweieinhalb Wochen wurden sie in das Petersburger Hotel „International“ verlegt, wo sie für vier Wochen beinahe das Dasein von Urlaubern führten. Jeder konnte über ein „gutes Zimmer bei aufmerksamer Bedienung“ verfügen, ihnen wurden Besichtigungen und Spaziergänge - in Begleitung eines Postens - gestattet. Am 24.Juni durften sie schließlich die Rückreise antreten. Ihr noch einmal beschwerlicher Weg mit verschiedenen Verkehrsmitteln führte über Narwa und Stettin.
Der Beweggrund für die Entführung mag den Betroffenen wie Hohn geklungen haben. Er geht aus einem Brief hervor, den der Rädelsführer Hermann Knüfken beim Verlassen des Schiffes in Rußland an Bord zurückließ. Es heißt dort:“ Gemäß Ihrer Einladung (Unterschrift: Snowjew) sollte die ‘Kom. Arbeiter-Partei’ (frühere Opposition innerhalb der K.P.D. Spartakusbund) 2 Delegierte nach Moskau entsenden. Um nun die schwierige und hindernisreiche Reise zu erleichtern, machte ich den Genossen den Vorschlag, den Seeweg zu benutzen und erbot mich, sie in 10 Tagen nach Sowjetrußland zu bringen...Mit revolutionärem Gruß, gez. Hermann Knüfken“
Einer dieser beiden Delegierten, derjenige, der sich an Bord ‘de Voß’ nannte, entpuppte sich übrigens bald als der seinerzeit recht bedeutende Schriftsteller Franz Jung, der in seinen vor gut 50 Jahren erschienenen Erinnerungen „Der Weg nach unten“ auch diesen Abschnitt seines Lebens beschrieb. Wie kein anderes Ereignis hat denn wohl auch die Teilnahme an der Entführung des Fischdampfers „Senator Schröder“ Jungs Ruf als Abenteurer geprägt.